Hab ich überhaupt was zu sagen?

Hi, ich bin Jessika.

Ich kam in einem Land zur Welt, das zum Zeitpunkt meiner Geburt im Sterben lag. Manche nennen mich „Wendekind“, andere „Ossi“, ich selber habe jedoch keinerlei Erinnerung an die DDR und ihre Wiedervereinigung mit der BRD. Ich bin eine weiße, heterosexuelle cis-Frau. Ich stamme aus einer durchschnittlich verdienenden Arbeiter:innenfamilie und habe von meinen Eltern die Möglichkeit erhalten, etwas Brotloses zu studieren. Zwischen mir und dem Begriff „normschön“ liegen 10 kg „zu viel“, doch ich erfahre wegen meines Aussehens keinerlei Diskriminierung. Ich habe zwei gesunde Töchter zur Welt gebracht. Beide Geburten waren Kaiserschnitte – einer mit Spinalanästhesie, einer unter Vollnarkose. Ich habe keine davon als gewaltvoll oder traumatisierend in Erinnerung. Ich bin Feministin und ich gendere, ohne dafür angefeindet zu werden. Ich bin neurotypisch. Meine chronische Asthma-Erkrankung begleitet mich mein Leben lang, schränkt mich im Alltag allerdings nicht ein. Um mit meinem Partner ein Haus bauen zu können, haben wir einen hohen Kredit aufgenommen. Wir hatten dabei keinerlei Probleme – obwohl wir beide selbstständig und unverheiratet sind. Ich kann mir einen nachhaltige(re)n Lifestyle – mit Abstrichen hier und da – leisten. Denke ich an den kommenden Winter, habe ich weder Angst vor der Nebenkostenabrechnung noch davor, mich mit Covid-19 zu infizieren. Diese Worte schreibe ich auf der Fahrt nach Rügen – in einen Urlaub, für den wir weder sparen noch unsere Familienfinanzen genauestens checken mussten.

Ich hatte es nie schwer im Leben, komme aus einem liebevollen Elternhaus, pflege langjährige Freund:innenschaften, erfahre Unterstützung beim Realisieren meiner Träume, führe seit über acht Jahren eine stabile Paarbeziehung, musste keinerlei traumatisierende Erfahrungen machen.

Ich bin durch und durch privilegiert. Durchschnittlich. Nicht betroffen.

#checkyourprivileges in Reinform

Lese ich die Beiträge in meinem Insta-Feed, macht sich in mir regelmäßig ein seltsames Gefühl breit. Es ist eine Mischung aus verstehen (wollen), Anteilnahme, Neugier… und der Erkenntnis, (mal wieder) nicht mitreden zu können.

Ist da die Rede von -ismen verschiedenster Art, Armutshintergründen, Neurodiversität und all den Diskriminierungsdimensionen, die damit einhergehen, kann ich zwar Support durch Likes und Kommentare ausdrücken, doch ich kann nichts beitragen. Ich habe Angst, das Falsche zu sagen, weil ich streng genommen gar nichts zu sagen habe. Will keinen Raum einnehmen, der mir nicht zusteht, keinen unnötigen Lärm erzeugen, wo es andere ohnehin schon schwer haben, gehört zu werden. #checkyourprivileges in Reinform sozusagen.

Doch gleichzeitig ist da dieser – für viele ganz sicher nicht nachvollziehbare – Wunsch, irgendwo dazuzugehören. Auch „mein Thema“ zu haben. Bedeutungsschwere Postings zu schreiben, die das Internet zumindest ein bisschen besser machen. Immerhin betrachte ich mich als Content-Schaffende, habe mich vor mehr als sieben Jahren aktiv dazu entschieden, in sozialen Medien nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu produzieren. Output zu liefern. Menschen zu inspirieren.

Sollte es da nicht (bedeutsame) Themen geben, zu denen ich Mehrwert beitragen kann?

Hier eine Themenwoche, da ein „Faces of…“-Projekt

…und dazwischen immer wieder die Frage: Habe ich denn überhaupt irgendwas zu sagen, was auch wirklich gehört werden muss?

Ja, natürlich – da ist meine Selbstständigkeit. Meine Arbeit als Freelancerin-Texterin und Buchautorin. Meine Expertise,  meine Erfahrungen… Aber ist es das? Will ich dafür „bekannt sein“? Will ich mich darüber definieren? Soll das meine (digitale) Identität bestimmen? Ich hadere immer mehr mit der Präsentation meiner Person als die „erfolgreiche #workingmom mit eigenem Business“, weil ich es immer bedeutungsloser, fast schon ein bisschen gefährlich finde.

Ich liebe meinen Job und mache ihn gut, keine Frage. Aber letztlich ist er viel weniger insta-wirksame Leidenschaft und viel mehr bloßer Broterwerb. Ich arbeite, um Geld zu verdienen und nicht weil ich denke, dass die Welt durch meine Texte und Bücher ein besserer Ort wird.

Was also am Ende bleibt, ist ein schaler Beigeschmack. Die Erkenntnis, dass ich vermutlich wirklich nichts oder zumindest nicht sonderlich viel zu sagen habe. Vielleicht sind für mich doch eher die seichteren Themen reserviert. Ein paar hübsche Reiseeindrücke hier, ein bisschen kreativ-chaotisches Familienleben da und dazwischen bloß nicht die Selfies vergessen – die mag der Algorithmus doch so gern…