Zwischen Republikflucht, Inhaftierung und Neubeginn || Interview mit meiner Tante Ilona Soßdorf

Meine Tante Ilona war schon immer die „West-Tante“. Die Tante, deren Besuch stets ein besonderes Highlight darstellte. Die Tante, die auf mich schon als Kind und Jugendliche einen besonders weltoffenen, eloquenten und eleganten Eindruck machte. Sie ist aber auch die Tante, die mit meinem Onkel und meinen beiden Cousins aus der DDR flüchten wollte und dafür ins Gefängnis kam.

So weit meine Erinnerung zurück reicht, wurde darum in unserer Familie nie ein Geheimnis gemacht, wir sprechen regelmäßig offen darüber. Was das alles bedeutete, wurde mir jedoch erst im Laufe der Jahre bewusst – auch und vor allem durch ihr Buch, das meine Tante Ilona 2019 veröffentlicht hat.

Tante Ilona und ich im Dezember 2018

Darin aufgeschrieben: Ihre ganz persönliche Fluchtgeschichte – von Anfang bis Ende, vom ersten Gedanken bis zum Ankommen im neuen Leben, mit Stationen dazwischen, die bei weitem nicht jeder Mensch so stark überstanden hätte wie Ilona.

Es ist eine abenteuerliche Geschichte. Eine Geschichte, die man aus Filmen und Büchern kennt, nicht aber in der eigenen Familienchronik erwartet. Und es ist eine Geschichte, die Fragen aufwirft.

Interview mit Ilona Soßdorf

Als ich die Geschichte rund um den Fluchtversuch meiner Tante auf Instagram angeteasert habe und dazu aufrief, ihr Fragen dazu zu stellen, war die Resonanz groß. Ich selbst hätte nicht damit gerechnet, dass ihr so viele Fragen habt und euch die Thematik scheinbar nicht nur oberflächlich interessiert.

Das Ergebnis meines Aufrufs sind Antworten auf Fragen, die sicher nicht jede:r von euch beim Lesen nachvollziehen kann. 

Wer sich ein umfassendes Bild von der Geschichte meiner Tante (als ein Beispiel von vielen Republikflüchtigen) machen will, sollte darum nicht nur diesen Blogbeitrag, sondern auch ihr Buch „Die Nachtwanderung – Das Abenteuer unseres Lebens“ lesen. Vieles – die Gründe für den Fluchtgedanken, die Flucht an sich und der Aufenthalt in zwei Haftanstalten – wird darin um einiges detaillierter beschrieben als im nachfolgenden Interview. 


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Hallo Ilona, kannst du uns vielleicht erst einmal ein bisschen was über dich erzählen und dich den Leserinnen und Lesern kurz vorstellen?

Ich heiße Ilona Soßdorf. Ich bin stolze 68 Jahre jung, inzwischen 48 Jahre mit dem gleichen Mann verheiratet und seit fünf Jahren Rentnerin.

Meine beiden Söhne sind längst aus dem Hause, haben selbst Familien gegründet und mich zur stolzen 3fach-Oma gemacht.

Du hast im Sommer 1981 mit deinem Mann und deinen zwei Söhnen versucht, aus der DDR in die BRD zu geflüchtet - Warum?

Ich bzw. wir waren mit den Gegebenheiten in der DDR unzufrieden. Wir wollten mehr vom Leben. Speziell ich glaubte nicht daran, dass es uns einmal so gut gehen würde, wie es uns heute geht. Ich hoffte in erster Linie auf ein besseres, freieres Leben für unsere Kinder.

Ab welchem Punkt habt ihr das Leben in der DDR nicht mehr ausgehalten, sodass nur noch die Flucht in den Westen eine Option für euch war?

Der Gedanke wurde 1977 geboren und 1981 in die Tat umgesetzt. Es war also ein „schleichender Prozess“ und nicht abhängig von einem konkreten Auslöser.

Ihr seid also keine SED-Verfolgten gewesen?

Nein, wir waren unbescholtene Bürger, unbeschriebene Blätter. Wir waren still und leise unzufrieden…

Wie war das erste Gespräch mit deinem Mann, in dem es um die Fluchtgedanken ging?

Mein Mann war der Vater des Gedanken. Ich konnte mich dem aber ganz schnell anschließen. Details sind in meinem Buch beschrieben.

Wieso wog der Wunsch, die DDR zu verlassen, schwerer als die körperliche Unversehrtheit eurer Kinder?

Wir glaubten, eine Fluchtvariante gewählt zu haben, welche für uns alle mit körperlicher Unversehrtheit einhergehen würde. Wir waren jung und voller Enthusiasmus. Das Leben lag noch vor uns.

War eine Flucht ohne die Kinder keine Option für euch?

Nein, nie. Das hätten wir nicht getan. Unvorstellbar.

Würdest du sagen, dass andere DDR-Bewohner die Umstände im Land besser ertragen haben oder wart ihr einfach mutiger?

Alle, ich glaube wirklich alle Menschen in der DDR haben früher oder später über eine Ausreise oder eine Flucht nachgedacht. Ein Teil der Bevölkerung wollte sie aber nicht verlassen, weil sie sich mit dem Regime und dem System arrangiert hatten. Viele, viele wollten gehen, hatten aber meiner Meinung nach nicht den Mut dazu.

Wen habt ihr in eure Pläne eingeweiht?

Nur ein befreundetes Ehepaar und eine Schwester meines Mannes. Jeder weitere Mitwissende wäre eine Gefahr für uns gewesen. Und selbst für jeden Mitwisser stellte es ein hohes Risiko dar.

Wie schwer war der Abschied von Familie und Freunden auf unbestimmte Zeit?

Nicht so schwer, wie man befürchtet. Wir hatten vier Jahre lang an unserem Plan geschmiedet. Dann waren wir froh, als es endlich so weit war. Wir hatten wohl innerlich genügend Abschied von allem und allen genommen.

Welche persönlichen Gegenstände hast du mit auf eure Flucht genommen?

Nur eine Handtasche mit Papieren und etwas Schmuck. Dieser Schmuck stellte keinen großen Wert dar, hat mir aber sogar noch mehr Haftzeit im Urteil beschert. Mehr dazu schreibe ich in meinem Buch.

Wie hat es sich angefühlt, Freunde und Familie zurückzulassen?

Natürlich schwer, aber wer nach vier Jahren Planung freiwillig in ein ganz anderes Land und Leben aufbricht, der darf nicht allzu sentimental sein. Allen hatten wir gesagt, wir fahren in den Urlaub, es gab also einen Abschied; unsere Kinder weihten wir erst ein, erst als die Fluchtnacht bevorstand.

Euer Flucht-Versuch ist missglückt. Kannst du kurz erzählen, warum?

Weil das Schicksal es so wollte. Der genaue Hergang ist ausführlich in meinem Buch [Affiliate-Link] beschrieben und nur wenn man den gesamten Verlauf kennt, kann man sich ein Urteil bilden, warum unser Versuch missglückte.

Wovor hattest du am meisten Angst auf eurer Flucht und gab einen einen Moment (oder mehrere), in dem du Todesangst hattest?

Todesangst hatte ich nicht. Aber es gab zwei Situationen, die mich heute noch erschauern lassen, wenn ich daran denke.

Gibt es Ängste, die dich auch heute noch begleiten?

Ja. Ein oft wiederkehrender Alptraum ist, dass ich erneut ins Gefängnis müsse. Außerdem weine ich manchmal bei stürmischen Winden und Hundegebell in der Ferne. Die Hintergründe kann man sich ausmalen.

Nachdem ihr festgenommen wurdet, kamen dein Mann und du ins Gefängnis. Was hast du aus dieser Zeit mitgenommen?

Mich macht so schnell nichts kaputt. [Anm. d. R.: Natürlich waren meine Tate und mein Onkel getrennt voneinander inhaftiert. Ilona saß den Hauptteil ihrer Strafe im sächsischen Frauengefängnis Hoheneck ab. Die Untersuchungshaft verbrachte sie im Erfurter Stasi-Gefängnis in der Andreasstraße. Das Gefängnis ist heute eine Gedenkstätte, sodass ich von ein paar Jahren mit Ilona an diesen Ort zurückkehren konnte. Du kannst dir sicher vorstellen, wie intensiv dieser Besuch war.]

Wie haben Familie und Freunde auf eure Tat reagiert?

Teils mit Entsetzen, teils mit Verständnis. Nie mit direkten Vorwürfen gegen uns.

Welche Konsequenzen hatte der Fluchtversuch für eure Familie?

Er hatte keinerlei direkte Auswirkungen. Ich glaube, dafür waren wir alle zu „kleine Lichter“.

Wie hat es sich angefühlt, als ihr endlich frei wart?

Wie erhofft. Grenzenlose Freiheit gepaart mit unbändigem Optimismus. Keinerlei Ängste und stark in der Hoffnung „Wir schaffen das“.

Wie war euer Leben "drüben" zwischen Flucht und Wende? Ab wann gab es so etwas wie einen Alltag?

Wir wurden im Mai 1982 in die Bundesrepublik entlassen. Unsere Kinder durften erst am 19. November (also 6 Monate später) nachkommen. [Anm. d. R.: Während der Haft ihrer Eltern und den sechs Monaten danach lebten meine Cousins bei ihrer Großmutter.] Das war die letzte Rache der DDR-Behörden. Alles war neu. Wohnung, Jobs, Behördengänge, Menschen, usw. Als unsere Kinder bei uns waren, begann eine unbeschreiblich schöne Zeit. Ein Neuaufbau.

Als 1989 die Mauer fiel, hatten wir uns bereits gefestigt in unserem neuen Leben und unserer neuen Umgebung. Dann kamen Besucher aus dem Osten zu uns und wir durften wieder in der alten Heimat auf den Spuren der Vergangenheit wandeln.

Wen oder was hast du im Westen am meisten vermisst?

Nichts. Wir hatten es uns so ausgesucht und durften nun nicht jammern.

Gibt es rückblickend etwas, das in der DDR besser war in der BRD?

Ja, das grüne Buch, der Sozialversicherungsausweis. In diesem Buch war jedes Arbeitsverhältnis eines Menschen von der Ausbildung bis zur Rente mit ganz einfachen Mitteln dokumentiert und somit nachvollziehbar.

Hat sich die Flucht gelohnt?

Für uns auf alle Fälle. Wir konnten uns frei entfalten und entwickeln, sowohl mein Mann, als auch ich, sowie unsere beiden Söhne. Wir haben eine Firma gegründet und diese innerhalb von 23 Jahren zu einem kleinen „Weltunternehmen“ auf- und ausgebaut. [Anm. d. R.: Die Bescheidenheit meiner Tante bringt mich echt zum Schmunzeln.] Und wir sind alle vier sehr viel gereist.

Findest du die Entscheidung aus heutiger Sicht noch gut?

Ja, es war der Weg, den wir gehen mussten.

"Unrechtsstaat" vs. "Es war auch nicht alles schlecht" - Wie stehst du heute zur DDR und den teils polarisierenden Auffassungen des Staates?

Beide Aussagen stimmen. Je nach Betrachter kommt das eine oder das andere in Frage.

Hast du deinen mentalen Frieden mit diesem Abschnitt deines Lebens gefunden?

Ja, schon immer. Inzwischen habe ich alles Erlebte niedergeschrieben und erfahre mit den Resonanzen auf mein Buch sehr schöne Momente. So wird mir zum Beispiel immer wieder gesagt, das das Besondere an meinem Buch neben allem Erlebten die Tatsache sei, dass ich es ohne Hass und Verbitterung geschrieben hätte.


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Beeinflusst er dich heute noch? Würdest du sagen, du bist dadurch ein "anderer Mensch"?

Ja, auf alle Fälle. Mein Leben ist in den vergangenen 38 Jahren so verlaufen, wie es in der alten Heimat nicht möglich gewesen wäre. Ich selbst konnte mich „in der Fremde“ frei von allen Vorurteilen zu dem Menschen entwickeln, der ich bin.  

Erkennst du Parallelen oder Unterschiede zwischen eurer damaligen Situation und der heutigen (Stichwort Flüchtlingskrise)?

Menschen verlassen mit Erwartungen ihre Heimat, diese ganz simple Formel ist damals wie heute anzuwenden.

Was gibst du jungen Menschen abschließend mit auf den Weg, die dir so viele Fragen stellen?

Ich freue mich über die Neugier dieser jungen Menschen. Bleibt weiterhin immer neugierig. Wenn ihr ein Ziel habt, und scheint es noch so unmöglich, steuert es an. Denn nur wer wagt, gewinnt.

Haltet durch, auch wenn die Zeit oder die Situation schwierig ist. Es geht vorbei. Nach schlechten Zeiten kommen gute Zeiten.

Das Leben ist nicht immer einfach, aber jeder hat es selbst in der Hand, dieses eine Leben positiv zu formen.

Vielen Dank für das Gespräch!